Das kleine Herz und der Stress (oder: Stress einmal anders betrachtet)

Gepostet von Malte am

Gastbeitrag von Ursula Arn

Wie ich es liebe, meinem Menschen in jedem einzelnen Augenblick treu zu dienen. Welch dankbare und verantwortungsvolle Aufgabe. Doch, manchmal treibt sie mich fast zur Verzweiflung. Ich weiss nicht, wieso die Menschen denken, Stress sei, wenn sie viel zu tun haben. Wenn die wüssten, wie oft ich und meine Freunde hier im Körper durchgeschüttelt werden. Echt, wie kommt es, dass die das nicht bemerken? Lass mich dir eine kleine Geschichte erzählen. Darüber, wie ich mich manchmal fühle.

Es ist Morgen. Ich bin voller Tatendrang und schlage schön regelmässig und kräftig. Plötzlich fühle ich mich wie elektrisiert. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Es scheint sinnvoll zu sein, meine Taktfrequenz zu erhöhen. Also, Turbostufe zwei. Mein Mensch soll ja sofort handeln können. «Ach, es war nur dieser nervige Wecker! Dann kann ich mich ja gleich beruhigen.»

Das wird mir allerdings nicht leicht gemacht. Es ist heute, wie meistens. Ein Gehetze, bis er es endlich aus dem Haus schafft. «Wieso stellt mein Mensch diesen Wecker nicht früher? Denkt der nicht an mich?» Diese Fragen habe ich mir schon oft gestellt. Ich fühle mich angespannt und sehne mich nach meiner Leichtigkeit.

Mein Mensch macht sich auf den Weg zu seiner Arbeit. Im Flur treffen wir auf die junge, hübsche Nachbarin. Er freut sich sehr, sie zu sehen. Ich mache mit ihm einen Freudensprung. Beschwingt gehen wir weiter. Wenn ich könnte, würde ich singen. Das ist für mich immerhin um einiges angenehmer als das vorangehende Gehetze. Einen Teil der Anspannung fühle ich immer noch. Doch jetzt habe ich keine Zeit zum Grübeln. Es geht weiter mit dem Fahrrad. Wie ich das genieße. Da kann ich mich ein wenig austoben. Und das sogar ohne diese lästigen Mitspieler, die mich in die Turbostufen treiben.

Lästige Mitspieler? Das sind diejenigen, die wegen jeder Kleinigkeit in einen riesen Aktionismus fallen. Dann werden meine Freunde und ich mit einem Cocktail aus Hormonen, Botenstoffen und Impulsen zugeschüttet. Zugegeben, diese elektrisierenden Momente und das Adrenalin machen mich manchmal ein wenig high. Der nachfolgende Kater ist ehrlich gesagt nicht gerade prickelnd. Und wenn ich mich krank melde, findet das mein Mensch auch nicht lustig. Das ist eine besonders verzwickte Situation.

«Oh, jetzt bin ich mit meinen Gedanken ganz schön abgeschweift! Bitte etwas mehr Konzentration mein Liebes…»

Innerer Team-Dialog Plötzlich vernehme ich eine leicht säuerliche Stimme aus dem Off. «Wie kommst du denn dazu, uns als lästige Mitspieler zu bezeichnen?» Scheinbar bin ich der Notfall- Einsatztruppe zu nahe getreten. «Ohh, ihr müsst wissen, dass eure Aktionen mich echt stressen. Ich weiss nie, wann ihr mich wieder mit eurem Cocktail übergiesst. Für mich fühlt sich das jeweils an, wie im Schleudergang in der Waschmaschine. Und oft, folgt das nächste Schleuderprogramm, bevor das erste fertig ist. Eure Planung ist manchmal also wirklich kein Knüller! So komme ich überhaupt nicht mehr zu Ruhe. Ich fühle mich schlapp und energielos. Und manchmal frage ich mich, wie lange ich meine Aufgabe noch erfüllen kann.»

Da schaltet sich das Gehirn in die Diskussion ein. «Hast du den Eindruck, es gehe hier nur um dich? Du bist nicht das Einzige, das hier leidet. Ich bin auch andauernd in Alarmbereitschaft. Mal blinkt es hier, dann dort. Mir wird schlecht, wenn ich daran denke, wie stark dieser ganze Gedankenmüll meine Verarbeitungsstraßen verstopft. Überall benötigt es Umleitungen, damit wir unsere Arbeit einigermaßen erledigen können. Und wenn es ganz schlimm wird, bauen die vorne auch noch Straßenblockaden. In den Momenten verweigern die an der Front das Denken und schlussendlich weiss die Rechte nicht mehr, was die Linke tut. Wie wenn das nicht schon genug wäre, kommen noch die geheimen Mitspieler aus dem Untergrund dazu. Und, ich kann euch sagen: Die sind so was von fies. So gut, wie die getarnt sind, nützt uns die beste Polizei nichts. Wir sind immer zu spät! Wenn mir nur endlich jemand zeigen könnte, wie ich entspannt mit diesen unbewussten Mitspielern aus dem Untergrund umgehen könnte!»

Nachdenklich lausche ich diesem Dialog. «Stimmt, wir sitzen alle im selben Boot. Alle haben wir die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass unser Mensch sofort handeln kann, wenn es brenzlig wird. Wir dürfen ihn nicht im Stich lassen! Unsere Reaktionszeit und unser Spielraum sind eng begrenzt. Wir sollten unbedingt für eine bessere Zusammenarbeit sorgen. Darüber würden sich ganz bestimmt auch die Muskeln, Sehnen und viele andere hier freuen! Hat jemand von euch eine Ahnung, wie das gehen soll?» Die grosse Stille lässt mich erahnen, dass niemand eine wirklich gute Idee hat. Das macht mich traurig und irgendwie hilflos. Ich fühle mich geknickt und schlapp.

Herzhaftes am Arbeitsplatz

Tief in Gedanken versunken habe ich gar nicht bemerkt, dass wir inzwischen am Arbeitsplatz angekommen sind. Ich werde jäh aus meinen Gedanken gerissen. Schon wieder fühle ich mich elektrisiert. «Oh, là-là - der Haussegen hängt heute aber mächtig schief da draussen!» Ich werde direkt in die Turbostufe fünf katapultiert. Ich fühle mich gehetzt, eingeengt und bekomme kaum noch Luft. «Hej, Gehirn, kannst du bitte für Ordnung und Ruhe sorgen?» «Sorry, liebes Herz! Mit mir kannst du im Moment nicht rechnen. Bei mir ist Alarmstufe rot und es herrscht Gedankensalat und Chaos auf den Verbindungsstraßen. Die Angst hat gerade das Zepter übernommen. Echt, ich fürchte, dass das für dich heute ein Marathonlauf wird!» Mir ist ganz mulmig zumute. Das kann ja heiter werden, wenn sogar das Gehirn eine solche Voraussage macht.

Dann versuche ich es mit dem Körper. «Hallo Körper, kannst wenigstens du dich bitte mal entspannen? Ich fühle mich so eingeengt und starr!» «Sorry, liebes Herz! Ich würde am liebsten davon rennen. Daran hindern mich allerdings die Straßenblockaden. Zusammen mit den fiesen Typen aus dem Untergrund haben sie mich an Ketten gelegt. Mir bleibt gerade nichts anderes, als mich mit aller Kraft zu beherrschen! Ich hoffe, du hältst noch eine Weile durch!» Auch der Körper lässt meine Hoffnung auf Entspannung in tausend Stücke zerplatzen. So langsam aber sicher verlässt mich die Zuversicht.

Ich frage mich echt, was ich tun soll. Die beiden anderen Ansprechpartner sind auch auf Tauchstation. Die Intuition sehe ich am Horizont verschwinden und der Energie ist gerade die Puste ausgegangen. Ich verfalle in einen lethargischen Zustand und fühle mich wie auf einer Holperpiste. «Hoffentlich hört das bald auf hier, ich fühle mich wie eine ausgequetschte Zitrone!»

Der Rest des Tages verläuft einigermassen in geordneten Bahnen. Die Turbostufen eins und zwei reichen aus, um alles Weitere zu überstehen. Die Statistik heute Abend wird bestimmt wieder Bände sprechen. Ehrlich gesagt, weiss ich nicht, wieso ich diese Statistik überhaupt noch führe. War die hübsche Nachbarin am Morgen tatsächlich die einzige, die mir heute einen Freudensprung beschert hat? Es ist niederschmetternd diesen Verlauf zu beobachten. Ich habe den Eindruck, dass die ganze Situation immer schwieriger wird. Es gibt Momente, wo ich mich frage, was wohl passieren muss, damit mein Mensch endlich beginnt, für unser Wohl zu sorgen!

Abendstimmung

Endlich sind wir zu Hause angelangt. Ich habe mich ein wenig beruhigen können. Entspannung fühlt sich allerdings anders an. Wenn ich mich bei meinen Freunden im System umschaue, geht es uns allen ähnlich. Der Körper fühlt sich schmerzhaft, verspannt und schlapp zugleich. Die Gedanken tigern umher, wie ein Gefangener in einer Zelle. Die Emotionen melden Frust, der sich ausbreitet. Das Bauchgefühl sucht nach dem Sinn der ganzen Sache. Kein Wunder, dass uns auch die Energie verlassen hat und wir uns alle richtig erledigt fühlen nach diesem Tag. Eigentlich sollten wir für unseren Einsatz Sonderzulagen erhalten. Doch, das hat unser Mensch noch nicht begriffen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob der wirklich weiß, was mit uns tagtäglich abgeht.

Das Abendritual kommt näher. Ich freue mich sehr darauf. Bei Mozarts kleiner Nachtmusik gelingt es mir glücklicherweise fast jeden Abend, mich zu beruhigen. Hoffentlich schieben die Damen und Herren von der Gedankenabteilung heute Abend keine Überstunden. Sonst wird es schwierig, überhaupt an Nachtruhe zu denken. Und echt, ich brauche diese Erholung. Nach diesem Tag heute, mehr denn je. Sonst weiß ich nicht, wie das morgen weitergehen soll. Diese Nacht träume ich bestimmt davon, wie schön es wäre, entspannt zu pochen.

Vision im Traum

Mein Mensch hat sich schlafen gelegt. Wie schön. Das erlaubt auch mir, es gemütlicher anzugehen. Ich falle in einen süssen Traum: Da sind zwei verliebte Herzen, die ihre Türen weit aufgesperrt haben. Sie tanzen freudig und vibrierend im gleichen Takt. Es sieht aus, wie wenn die beiden durch unsichtbare Fäden verbunden wären. Ein wahrlich magischer Moment. Bei diesem Anblick schmelze ich selbst im Traum beinahe dahin.

Plötzlich erscheint hinter den beiden eine große Leuchttafel. Sie zeigt zwei Werte, die ich nicht verstehe. Ganz zart dringt die Stimme des einen Herzens im Traum zu mir durch. Es erklärt dem anderen, was diese Werte bedeuten. Scheinbar senden sowohl das Herz wie das Gehirn elektromagnetische Wellen aus. «Schau hin!» Sagt das Herz. «Unsere Wellen sind 1'000 Mal stärker als die des Gehirns! Ist das nicht wunderbar? Wenn wir es schaffen, unsere Türen weit aufzusperren, können wir bei den Menschen um uns herum so viel Gutes bewirken!»

Ihr gemeinsamer Tanz wird noch intensiver. Gleichzeitig schnellt der eine Wert an der Tafel in die Höhe. Die Herzen unterhalten sich weiter. Leider ist es mir im Traum nicht möglich, alles zu verstehen. Irgendwie sprechen die davon, dass viele Menschen ihre Türe zum Herzen gar nicht öffnen können. Weiter geht es auch darum, dass es diesen Herzen und ihren Menschen schlecht geht. Die würden sich so alleine, getrennt und eingesperrt fühlen.

Was für ein spannender Traum. Ich bin so froh, dass ich meine Türe noch aufsperren kann. Leider gelingt es mir nicht mehr so gut, wie ich das gerne möchte. Plötzlich tönt ein schriller Ton. «Oh, nein! Nicht schon wieder dieser Wecker!» Dieses lärmige Teil holt mich aus meinem Traum. Meine Entspannung ist futsch. Ich habe keine Wahl und sehe mich einmal mehr gezwungen eine Turbostufe hochzufahren.

Hoffentlich wird dieser Tag heute relaxter, als der gestern!

Ursula Arn