Ängste? Erläuterungen zu einem aktuellen Gefühl

Gepostet von Malte am

Gastbeitrag von Klaus Eidenschink

Ängste gelten in unsicheren und bedrohlichen Zeiten als normal. Gestern laß ich in einer Zeitung: „Wer jetzt nicht Angst hat, mit dem stimmt was nicht!“. Ich teile das nun so ganz und gar nicht. Daher nehme ich das hier mal zum Anlass, aus psychotherapeutischer und systemtheoretischer Sicht ein paar Anmerkungen zu Ängsten zu machen und wie man mit ihnen gedeihlich umgeht. Coronaängste sind da mit gemeint, aber die Überlegungen gehen darüber hinaus.

Zunächst gilt es den Unterschied zwischen einer Emotion und einem Gefühl zu verstehen. Alle Säugetiere reagieren emotional auf die Welt. Wir nehmen etwas wahr und verarbeiten die Wahrnehmung meist auch emotional. Man sieht den Säbelzahntiger, riecht den kommenden Eissturm, hört den herabfallenden Ast, spürt die scharfe Klinge, schmeckt die verdorbene Frucht und – man reagiert. Meist direkt, spontan , ohne Verarbeitung im Großhirn. Man läuft davon, sucht Unterschlupf, weicht aus, kämpft und geht in seine Kraft. Die emotionale Reaktion führt direkt in die Aktion. Für Angst als Gefühl ist weder Bedarf noch Zeit. Gefühle sind eine Art mit emotionaler Wahrnehmung umzugehen. Sie sind Verarbeitungsschemata, welche uns helfen sollen, die Fülle an Emotionen zu selektieren, zu ordnen, ihnen Bedeutung zu geben, ihre Widersprüchlichkeit zu bearbeiten und sind ein Aspekt der seelischen Selbstorganisation, ähnlich wie Gedanken, wie Wissen, wie Wollen und Wünschen. Gefühle informieren daher nicht über die äußere Welt, sondern informieren einen über die erlernten und abgespeicherten Muster, wie die Welt außen zu deuten ist. Gefühle sind damit immer selbsterzeugt und sie sind ein eigenständiger Verarbeitungsvorgang unser Seele im Umgang mit sich selbst. Gefühle haben ein eigenes Gedächtnis, einen unmittelbaren Zugang zum Selbstausdruck und beeinflussen permanent die Resonanz, die wir von anderen Menschen bekommen. Und – all das ist nur sehr eingeschränkt kognitiv, vernünftig steuerbar. Vernunft hat keine Herrschaft über die Gefühle.

Soweit – in absurder Kürze – eine Theorie der Gefühle. Was bedeutet das nun im Hinblick auf Angstgefühle?


Angst und die eigene Vergangenheit

Jeder Mensch hat Schemata, wann, wie, wie stark, wie oft, wie anhaltend, aus welchem Anlass und mit welchen Folgen Ängste wachgerufen werden. Wie jedes Gefühl macht Angst also mit sich selbst bekannt.

MERKE: Angst informiert mich nicht über die Gefahren der Welt, sondern darüber, was ich gelernt habe, für gefährlich zu halten!

Das ist ein großer Unterschied. Aus diesem Grund ist es gefährlich ungeprüft auf seine Ängste zu hören. Wenn Ängste mich über meine Biographie informieren, dann droht  jedes Verhalten, welches aus den Ängsten heraus motiviert ist, meine Vergangenheit neu in der Gegenwart zu beleben. Das heißt,

  • weil ich gelernt habe, dass die Welt jederzeit gefährliche Überraschungen bereithält, dann bin ich ständig wachsam,
     
  • weil ich gelernt habe, dass ich mit Ängsten allein zurecht kommen muss, ziehe ich mich zurück und komme gar nicht auf die Idee, mich trösten zu lassen
     
  • ​weil ich gelernt habe, dass ich beschämt werde, wenn ich Angst habe, bringe ich immer die geforderte Leistung und strenge mich bis zum Umfallen an.
     
  • weil ich gelernt habe, dass Angst zur Unselbständigkeit führt, flüchte ich mich trotzig in die Übersouveränität und hole mir zu spät oder keine Hilfe,
     
  • weil ich gelernt habe, dass man gegen Bedrohungen nichts machen kann, sind Ängste für mich ein Signal zu kollabieren und aufzugeben,
     
  • ​weil ich gelernt habe, Ängste zu ignorieren, fühle ich mich unverwundbar und schaue auf die ängstlichen Mitmenschen mitleidig herab,
     
  • weil ich gelernt habe, mich für die Ängste anderer zuständig zu fühlen, denke ich für andere eine Zumutung zu sein, wenn ich selbst Angst habe und nehme an, dass sie mich verlassen,
     
  • weil ich gelernt habe, dass man Ängste nicht beruhigen kann, lasse ich mich von Ängsten überschwemmen und werde panisch,
     
  • weil ich gelernt habe, dass wenn ich Ängste habe, andere mich aus der Patsche ziehen, überlasse ich das Gefahrenmanagement anderen. Die werden es schon richten…
     
  • usw. usf.


Ich hoffe, man bekommt beim Lesen einen Eindruck davon, was der Satz meint, dass Ängste ein Verarbeitungsschema aus der Vergangenheit und keine Reaktion auf die Gegenwart sind. Philosophischer formuliert: Ängste haben einen Selbst- und keinen Weltbezug.


Angst und die erwartete Zukunft

Ängste sind besonders heimtückisch, weil im Gedächtnis der Angst abgespeichert ist, was demnächst passieren wird. Sie schreiben also emotional eine erwartete Zukunft fest. Die Annahmen von Ängsten darüber, wie es kommen wird, sind für jeden Menschen, der seine Ängste nicht hinreichend bearbeitet hat, von maximaler innerer Überzeugungskraft.

Man ist sich ganz, ganz sicher. So wird es ausgehen!

Das ist deshalb so fatal, weil dadurch die eigenen Handlungen und Mitteilungen nicht mehr die aktuellen Gegebenheiten behandeln, sondern die Gegenwart, die man früher erlebt hat, zum Maßstab der Aktivitäten wird. Damit schwächt man sich kolossal, in seiner Kompetenz im Hier und Jetzt die passenden Antworten und Reaktionsweisen zu finden. Man ist dann überentspannt, zu hektisch, zu schwach, zu stark, zu schnell, zu langsam, zu kontrolliert, zu ungesteuert, zu lieblos, zu fordernd, zu nachsichtig …

Was dazukommt ist, dass auch der bekannte Mechanismus der Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeihung greift und man unbewusst sehr viel tut, um die Wahrscheinlichkeit zu optimieren, dass die eigenen Erwartungen sich bestätigen.


Angst und die Illusion von Kontrolle

Eine spezielle Folge von unbearbeiteten Ängsten ist es, dass man glaubt, mit Handlungen im Außen Kontrolle über die Gefühle im Innen bekommen zu können. Man glaubt dann, dass man ruhiger wird, wenn man zum Arzt geht, wenn man gute Leistung erbringt, die Erwartungen der anderen erfüllt u.ä.m. Gefährlich ist das deshalb, weil es vordergründig zunächst oft funktioniert. Man hat sich die Hände gewaschen und glaubt damit sich nicht angesteckt zu haben. Man hat drei Schlösser abgeschlossen und die Alarmanlage aktiviert und glaubt, sich sicher vor Einbrechern zu fühlen, man hat 2 Millionen am Konto angehäuft und glaubt, für die Zukunft genug zu haben etc.! Leider tritt in den allermeisten Fällen über kurz oder lang der gegenteilige Effekt ein: Man traut den Maßnahmen nicht wirklich, man „braucht“ einen zweiten Arzt, eine zusätzliche Überwachungskamera, eine weitere Million usw. Da die Ängste ein Binnenphänomen der Psyche sind, nutzen Maßnahmen in der äußeren Welt wenig bzw. sie nutzen sich sehr schnell ab. Dazu kommt, dass man meist den Eindruck nicht los wird,

  • dass man etwas übersehen hat,
     
  • dass es zu wenig oder zu viel oder das Falsche ist,
     
  • dass es nicht verlässlich ist oder
     
  • dass man es wiederholen müsste.


Daraus folgt:

Ängste über Kontrolle zu bearbeiten, ist meist eine besonders heimtückische Weise um sie paradoxerweise lebendig, wirksam und dauerhaft in sich zu verankern.


Angst braucht eine Lösung im Innen

Was ist statt dessen hilfreich? Man muss hier zwischen Maßnahmen unterscheiden, die man alleine für sich versuchen kann und denen, die mit professioneller Unterstützung einhergehen.

Für sich selbst ist das Wichtigste, dass man die Ängste weder abwertet und wegmachen will, noch sich von ihnen dominieren und leiten lässt bzw. man andere Menschen dafür einspannt, sich andauernd mit diesen Gefühlen zu beschäftigen. Wer also nie, dauernd oder abwertend mit eigenen Ängsten beschäftigt ist, weiß, dass er bislang keinen guten Weg gefunden hat, mit ihnen umzugehen.

Es geht darum, dass man zunächst einen Weg sucht, sich von den ängstlichen Seiten innerlich distanzieren zu können. Einfach gesprochen – kann ich innerlich eine Art Beobachterposition einnehmen und betrachten, wie ich Angst habe? Diese Position ermöglicht es, zu sagen: „Ah, da reagiere ich mit Angst! Was lehrt mich das über meine Geschichte? Was braucht diese ängstliche Seite möglicherweise von mir? Was könnte sie mir darüber wohl erzählen wollen, was sie erlebt hat? Was weiß sie vielleicht darüber, was sie von wichtigen Figuren des eigenen Lebens über Ängste gelernt hat?“

Schritt zwei wäre dann, in einen inneren Dialog mit den Ängsten zu kommen und zu lernen sich diesen positiv zuzuwenden, statt zu versuchen, sie in Schach zu halten, zu verbergen oder zu ignorieren.

Schritt drei besteht darin, dass man (auf der Seite der Angst) diese innere Zuwendung an sich heranlässt und erforscht, was es für Auswirkungen hat, wenn einem etwas entgegengebracht wird, was man real nie im Leben erlebt hat.

Professionelle Unterstützung braucht man schlicht und ergreifend dann, wenn einer oder alle dieser gerade benannten Schritte einem selbst allein nicht gelingen oder schon in Ansätzen scheitern. Besonders braucht man sie aber dann, wenn man gar keine Ängste kennt. Das ist der sicherste Hinweis dafür, dass man mit Ängsten ein gewaltiges Problem hat, weil es nämlich so groß ist, dass man es sich noch nicht einmal erlauben kann, Ängsten ins Gesicht zu schauen.


Und in Zeiten von Corona?

Nimmt man obige Überlegungen ernst, dann wäre es für alle elementar, dem eigenen Angststatus zu misstrauen bzw. ihn einer Prüfung zu unterziehen. Weil – wie gesagt – Ängste informieren über die erlernten, nicht über die akuten Gefahren! Jeder – der Entspannte wie der Angespannte – sollte sich also mit der Frage beschäftigen: „Könnte es nicht auch ganz anders sein?“ Wer entspannt ist, droht vielleicht seinen erlernten Gelassenheitszwang auch dann aufrecht zu erhalten, wenn er einfach aus Furcht und Loyalität zu Hause bleiben statt zum Skifahren gehen sollte. Wer angespannt ist, droht vielleicht seine erlernte Ängstlichkeit auch dann aufrechtzuerhalten, wenn es angebracht wäre mutig und zuversichtlich nach Wegen zu suchen, mit der Lage kreativ umzugehen. Beides kann angemessen wie unangemessen sein.

Entspannt Corona-Parties zu feiern, ist vermutlich ein Zeichen von Abspaltung jeglicher Realitätswahrnehmung und ein Leben im eigenen Grandiositätsfilm. Angespannt zu horten und zu hamstern, eigene und fremde Infektion zu fürchten und auf den Weltuntergang zu spekulieren, ist eher ein Zeichen von mangelnder Distanz zu den eigenen Gefühlen und fehlender Selbststeuerung.

Daher prüfe sich, wer solche Zeiten durchlebt. Diese Prüfung wird umso verlässlicher, je mehr man im Gespräch mit anderen ist und je mehr man zulassen kann, kritische Nachfragen anderer nicht einfach abzutun. Jedenfalls scheint mir, dass viele im Moment bestimmte Ängste erlernen müssen, die bislang nicht nötig waren.